Aufmerksamkeitsökonomie (Medienwissenschaft)

Icon medien kultur wissenschaft.png
Funktionsweise und strukturierendes Merkmal spätkapitalistischer Gesellschaften, gemäß derer die Aufmerksamkeit von Individuen zu einer primären Wertquelle wird. In der Aufmerksamkeitsökonomie konzentrieren sich Produktivkräfte auf die möglichst konstante und anhaltende Bündelung von Aufmerksamkeit der Nutzer_innen auf die eigenen Medieninhalte.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Daten (Medienwissenschaft), Digitale Resilienz (Medienbildung), Echokammer (Medienwissenschaft), Filterblase (Medienwissenschaft), Filtersouveränität (Medienwissenschaft), Kontrollverlust (Medienwissenschaft), Mediale Kontrolle (Medienwissenschaft), Medienkompetenz (Medienbildung), Öffentlichkeit (Medienwissenschaft), Überwachung (Medienwissenschaft)

Was bezeichnet dieser Begriff?

Der Begriff 'Aufmerksamkeitsökonomie' bezeichnet eine Logik oder Funktionsweise von (digitalen) Medien und Öffentlichkeit, innerhalb derer die Aufmerksamkeit der adressierten Mediennutzer_innen "als knappes Gut und ökonomisch kostbare Ressource"[1] betrachtet wird. Dabei wird angenommen, dass Nutzer_innen immer nur eine Auswahl von vorhandenen und auf sie einwirkenden Informationen aufnehmen und verarbeiten können. Innerhalb einer Logik der Aufmerksamkeitsökonomie sind solche Produzent_innen erfolgreich, denen es gelingt, die Aufmerksamkeit möglichst vieler Nutzer_innen auf eine möglichst konstante Weise auf die eigens produzierten Inhalte zu lenken und dort zu bündeln.

Die Aufmerksamkeitsökonomie wird bereits mit der Verbreitung klassischer Massenmedien wie dem Fernsehen vermehrt in den Blick genommen, erreicht aber insbesondere im digitalen Internetzeitalter und besonders in Hinblick auf die verbreitete Nutzung von digitalen Gadgets und sozialen Medien im 21. Jahrhundert neue Dimensionen. So beschreibt beispielsweise der Kunsthistoriker und Wahrnehmungsforscher Jonathan Crary in seinem Buch 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep (2013), wie die herkömmliche Produktionsarbeit als lebenszeitintensivste Aktivität des Individuums in der spätkapitalistischen Gesellschaft abgelöst wird: "what finally occupies individual attention is the management of the technical conditions that surround them: all the expanding determinations of delivery, display, format, storage, upgrades, and accessories."[2] Ziel korporativer Akteure sei in der Aufmerksamkeitsökonomie letztlich die Kontrolle des Augapfels als Ort der Steuerung durch externe Stimuli, durch Interfaces, auf bestimmte Interessensfoki, die dann über das Auge als Zwischenglied eine erwünschte Reaktion im Individuum hervorrufen, zum Beispiel das Klicken auf einen Link oder das Liken eines Beitrags.[3] Die bei diesen Handlungen produzierten Daten haben großen ökonomischen Wert. Insofern gehen gegenwärtige Ausprägungen der Aufmerksamkeitsökonomie auch mit massenhafter Datensammlung und einem digitalen Überwachungskapitalismus einher.[4]

Diskussionen um eine durch soziale Medien vorangetriebene Fragmentierung von Öffentlichkeit können ebenso auf das Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie bezogen werden: So kann das von Eli Pariser beschriebene und vielmals problematisierte Phänomen der Filterblase,[5] die in abgewandelter Form auch mit dem Begriff der Echokammer beschrieben wurde, als Effekt einer Bündelung von Aufmerksamkeit einiger bestimmter Nutzer_innen betrachtet werden, die sich dann um einen bestimmten Themenkomplex, eine bestimmte politische Ausrichtung oder um die Nutzung bestimmter ausgewählter Produkte formieren und sich entsprechend von anderen, wiederum anderswo gebündelten Interessengruppen abgrenzen. Der Aufmerksamkeitsökonomie muss daher ein öffentlichkeitsstrukturierendes Vermögen zugesprochen werden. In Anbetracht dessen kann die bewusste Selektion von Medieninhalten, das heißt die Steuerung der eigenen Aufmerksamkeit durch das Individuum selbst, im Sinne einer kritischen und reflektierten Mediennutzung, als zentraler Aspekt von Medienkompetenz erachtet werden, wie sie in der Medienbildung insbesondere angesichts sozialer Medien diskutiert wird.[6] Einen weniger pädagogischen, dafür aber politischen Ansatz zur aktiven und reflektierten Steuerung der eigenen Aufmerksamkeit im Kontext digitaler Mediennutzung stellt Michael Seemanns Konzept der Filtersouveränität dar, bei der durch digitale Plattformen angelegte Funktionen zur Filterung von Informationen von den Nutzer_innen bewusst verwendet werden, um die Informationsflut und den damit einhergehenden Kontrollverlust zu bewältigen.

Die psychologischen Auswirkungen der Aufmerksamkeitsökonomie sind Gegenstand von Überforderungs- und Gefahrendiskursen (Reizüberflutung, Konzentrationsschwäche, Fear-of-missing-out usw.) insbesondere mit Blick auf das alltägliche digitale Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen.[7] Auch aus künstlerisch-ästhetischer Perspektive werden die Auswirkungen der Überwachungs- und Aufmerksamkeitsökonomie auf das alltägliche Erleben kritisiert und Handlungsanleitungen gegeben.[8] Zur Bearbeitung dieser sozialpsychologischen Effekte werden beispielsweise medienpädagogische Reflexionen, Digital Detox, Achtsamkeitsübungen und aufmerksamkeitsökologische Positionen betont, dies auch mit dem Ziel, eine "gesunde" digitale Resilienz des Einzelnen auszubilden.

Woher kommt der Begriff?

Die Frage nach der Aufmerksamkeit kann als wichtige Problemstellung in der Wahrnehmungs- und Subjekttheorie betrachtet werden, wie sie in der Epoche der Aufklärung seit dem 17. Jahrhundert diskutiert wird. Dort wird sie in der Regel als eine "zentrale Instanz der Reizverarbeitung"[9] angesehen, bei der das Subjekt auf einwirkende Reize selektiv, das heißt mit unterschiedlicher Aufmerksamkeit, reagiert. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Thums bemerkt in ihrer Einleitung zur philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion des Aufmerksamkeitsbegriffs, dass er vor allem vor dem Hintergrund fortschreitender "Technisierungs- und Modernisierungsprozesse"[10] in den Fokus gerät. Mit einem Modus sich ständig selbst überbietender Gegenwart durch das Neue, durch (medien-)technische Innovation und der sich dadurch ändernden Wahrnehmung von Zeitlichkeit stellen sich neue Anforderungen an das Subjekt. Thums spricht der Aufmerksamkeit als "Voraussetzung und Strategem von Wahrnehmung" den Status einer "reflexive[n] Praxis der Selbstbegründung und -bildung" sowie einer "erkenntnistheoretisch fundierte[n] Praxis der Komplexitätsreduktion" zu. Aufmerksamkeit ist somit als zentraler Aspekt bei der Identitätsbildung des Individuums bzw. der Subjektivierung zu fassen.[11]

Entsprechende Relevanz erfährt der Begriff der Aufmerksamkeit im Kontext einer Ökonomisierung von Wissen, wie sie ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Schlagworten wie der Wissensgesellschaft oder der Informationsgesellschaft vermehrt beobachtet wird.[12] Wo Informationen und Wissen innerhalb spätkapitalistischer Gesellschaften zur Produktivkraft schlechthin avancieren, sehen sich Individuen vermehrt einer ganzen Informationsflut ausgesetzt, deren Rezeption nur noch stark selektiv und fragmentiert erfolgen kann. Die Aufmerksamkeit von Medienrezipient_innen wird selbst zur Rarität, sodass Medienproduzent_innen um sie mit einer Vielzahl von Medienangeboten werben müssen.[13] Georg Franck konstatiert deshalb in seinem gleichnamigen Werk 1998 erstmals eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, welche die bisherige Geldökonomie in ihrer Funktionsweise ersetze.[14] Kritisiert wurde diese enge Analogie zwischen Geld und Aufmerksamkeit insbesondere, insofern Funktionen des Tauschwerts, der Speicherung bzw. Hortung von Aufmerksamkeit nur eingeschränkt vergleichbar sind.[15] Andererseits wurde ein Wachstum der "Wahlmöglichkeiten und der Bedarf an Entlastung durch Metamedien (Suchmaschinen, Bots, Portale, aber auch Programmzeitschriften, Electronic Program Guides)" auf Seiten der Nutzer_innen prognostiziert[16], die den Aufwand für "Zeit und Aufmerksamkeit für Selektionsentscheidungen und Rezeptionsprozesse" delegieren. [17]

Weiterführende Literatur

  • Thums, Barbara. 2008. Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung von Brockes bis Nietzsche. München: Wilhelm Fink.
  • Beck, Klaus und Wolfgang Schweiger. 2001. Attention please! Online-Kommunikation und Aufmerksamkeit. München: Fischer.
  • Franck, Georg. 1998. Ökonomie der Aufmerksamkeit: ein Entwurf. München: Hanser.

Quellenverzeichnis

  1. Thums, Barbara. 2008. Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung von Brockes bis Nietzsche. München: Wilhelm Fink, S. 9.
  2. Crary, Jonathan. 2013. 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep. London/ New York: Verso, S. 49.
  3. Crary, Jonathan. 2013. 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep. London/ New York: Verso, S. 76.
  4. Vgl. Zuboff, Shoshana. 2018. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt; New York: Campus.
  5. Pariser, Eli. 2012. Filter bubble: wie wir im Internet entmündigt werden. München: Hanser.
  6. Bleicher, Joan Kristin . 2002. "Vorwort." In Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie, herausgegeben von Joan Kristin Bleicher und Knut Hickethier. Münster: LIT Verlag, S. 1.
  7. Katzer, Catarina. 2020. "Kindheit und Jugend in Zeiten digitaler Aufmerksamkeitsökonomie. Im Spannungsfeld zwischen Kompetenz und digitaler Überforderung muss Medienpädagogik neu gedacht werden." Kindesmisshandlung und -vernachlässigung 23(1): 44-55. doi.org/10.13109/kind.2020.23.1.44
  8. Vgl. etwa Odell, Jenny. 2021. Nichts tun: Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. München: C.H. Beck.
  9. Thums, Barbara. 2008. Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung von Brockes bis Nietzsche. München: Wilhelm Fink, S. 10.
  10. Thums, Barbara. 2008. Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung von Brockes bis Nietzsche. München: Wilhelm Fink, S. 10.
  11. Thums, Barbara. 2008. Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung von Brockes bis Nietzsche. München: Wilhelm Fink, S. 10.
  12. Vgl. Bell, Daniel. 1976. The Coming of Post-Industrial Society. New York: Basic Books; vgl. außerdem Porat, Marc Uri. 1977. The Information Economy: Definition and Measurement. Washington, D.C.: Office of Telecommunications. Aufgerufen am 19.08.2021, https://eric.ed.gov/?id=ED142205; Castells, Manuel. 2010. The Rise of the Netwok Society. 2. Ausgabe. Chichester West Sussex/ Malden MA: Wiley-Blackwell.
  13. Bleicher, Joan Kristin . 2002. "Vorwort." In Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie, herausgegeben von Joan Kristin Bleicher und Knut Hickethier. Münster: LIT Verlag, S. 1.
  14. Franck, Georg. 1998. Ökonomie der Aufmerksamkeit: ein Entwurf. München: Hanser.
  15. Beck, Klaus. 2001. "Aufmerksamkeitsökonomie - die Funktion von Kommunikation und Medien." In Attention please! Online-Kommunikation und Aufmerksamkeit. München: Fischer, S. 24.
  16. Beck, Klaus. 2001. "Aufmerksamkeitsökonomie - die Funktion von Kommunikation und Medien." In Attention please! Online-Kommunikation und Aufmerksamkeit. München: Fischer, S. 33.
  17. Beck, Klaus. 2001. "Aufmerksamkeitsökonomie - die Funktion von Kommunikation und Medien." In Attention please! Online-Kommunikation und Aufmerksamkeit. München: Fischer, S. 32.


Die erste Version dieses Beitrags wurde von Vesna Schierbaum und Clara Hense erstellt.

Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2022. „Aufmerksamkeitsökonomie (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.