Data Infrastructure Literacy (Medienbildung)

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Fähigkeit, im Umgang mit Daten nicht nur auf technische oder numerische Aspekte zu achten, sondern auch die an der Erzeugung und Verarbeitung von Daten beteiligten Machtpositionen und Infrastrukturen kritisch zu reflektieren.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Creative Data Literacy (Medienbildung), Data Literacy (Medienbildung), Daten (Medienwissenschaft)

Was bezeichnet dieser Begriff?

Data Infrastructure Literacy stellt eine Erweiterung des allgemeinen Konzepts der Data Literacy dar. Hierunter wird die individuelle Fähigkeit gefasst, Daten zu lesen und zu analysieren sowie weitergehend mit ihnen zu arbeiten und zu argumentieren.[1] Die Ausweitung zur Data Infrastructure Literacy wurde von den Kultur- und Medienwissenschaftler_innen Jonathan Gray, Carolin Gerlitz und Liliana Bounegru im Jahr 2018 vorgeschlagen, um Lehrkonzepte zur Data Literacy nicht nur auf informationstechnologische Kompetenzen zur Datenverarbeitung auszurichten, sondern verstärkt auch die kritische Reflexion und proaktive Auseinandersetzung mit der datenverarbeitenden Infrastruktur einzubeziehen.[2]

Die Erweiterung um den Begriff der Infrastrukturen verstehen Gray et al. dabei als gezielt politisches Argument, das strukturelle Vor- und Nachteile im Zusammenhang mit Daten aufgreifen soll. Data Infrastructures werden so als Beziehungen zwischen Menschen, Institutionen und Gesellschaften aufgefasst, die beispielsweise durch fehlenden Ausbau oder standardisierte Vorgaben diskriminierende Auswirkungen haben können.[3] Datensätze, aber auch ihre Infrastrukturen, sind normativen Setzungen unterworfen, die die Interessen derjenigen widerspiegeln, die sie erstellen und aufbauen. Eine Analyse dieser Dateninfrastrukturen kann daher nach Gray et al. wirtschaftliche oder politische Machtverhältnisse aufzeigen, die Auswirkungen auf die Nutzung der Datensätze haben. Gleichzeitig bringt die Erstellung von Dateninfrastrukturen zusätzliche Akteur_innen hervor, die ein eigenes Interesse an den aus ihnen generierten Datensätzen haben: Diese nennen Gray et al. "data publics".[4] Sie können die Dateninfrastrukturen so nutzen, wie von den Erstellenden intendiert, oder zu gänzlich anderen Zwecken. Ein Beispiel, das Gray et al. hierfür nennen ist die Funktion der Seiten 'Versionsgeschichte' und 'Diskussion' auf Wikipedia. Diese Seiten sollten den Nutzer_innen ermöglichen, miteinander über einzelne Absätze, Formulierungen oder Quellen eines Artikels zu diskutieren und nachzuvollziehen, welche Änderungen vorgenommen wurden. Kommunikationswissenschaftler_innen nutzten diese Datensätze wiederum für ihre Zwecke, indem sie an ihnen den Verlauf von öffentlichen Kontroversen nachzeichneten.[5] Die Vielfalt an Interessen, die Akteur_innen an Datensätzen haben können, zeichnet für Gray et al. die Dateninfrastrukturen aus: Sie seien meist mit einer spezifischen Intention erstellt worden, böten aber auch die Möglichkeit der Alternativnutzung.[6] Dies mache es notwendig, Dateninfrastrukturen und ihre konkrete Verwendung in Untersuchungen zu Datensätzen zu berücksichtigen, um ursprüngliche Interessen und anders geartete Nutzungsprozesse aufzuzeigen.

Die Einschränkungen, die mit der Erstellung von Dateninfrastrukturen einher gehen können, zeigen Gray et al. unter anderem an dem Beispiel von Facebooks Reaktionsbuttons. Im Jahr 2015 wurden zusätzlich zu dem bereits existierenden Button 'like' auch die Funktionen "'love', 'laugh', 'wow', 'sad'" und "'angry'"[7] eingeführt. Diese Art von Ausdrucksmöglichkeiten stellt nach Gray et al. einen typischen Aufbau von Dateninfrastrukturen dar: Sie seien häufig gleichzeitig eindeutig standardisiert und bis zu einem gewissen Grad differenziert, um den Eindruck einer individuellen Auswahl zu schaffen. Diese sei allerdings erheblich eingeschränkt und stelle eine Form von Verkürzung dar, deren Sichtbarmachung den Kern der von Gray et al. vorgestellten Data Infrastructure Literacy ausmacht. Durch die Herbeiführung von Transparenz sollen kritische Diskurse geschaffen werden, die die politische und wirtschaftliche Interessenslagen hinterfragen und verändern können. Der Begriff der Data Infrastructure Literacy führt damit den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs fort, der die Behandlung von Daten als 'roh' und 'unverarbeitet' kritisiert und sie als spezifischen Machtverhältnissen unterworfen einordnet.[8]


Woher kommt der Begriff?

Data Infrastructure Literacy knüpft an zwei unterschiedliche wissenschaftliche Strömungen an. Zum Einen bedient der Begriff sich des immer populärer werdenden Diskurses um Data Literacy. Während dieser Begriff seinen Ursprung in der Informationstechnik neben anderen Begriffen wie Statistical Literacy oder Information Literacy hat, wurden seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer häufiger größere gesellschaftliche Prozesse mit ihm verknüpft. So entstanden nicht nur unter dem allgemeinen Begriff der Data Literacy zahlreiche politische Initiativen, auch die Weiterentwicklung des Begriffs mit neuen Zusätzen erhielt einigen Zulauf. Mit dem Ziel, sich von dem ursprünglich informationstechnisch gebundenen Verständnis zu lösen, wurden so beispielsweise die Begriffe Creative Data Literacy oder Critical Data Literacy eingeführt. Diese und auch der Begriff der Data Infrastructure Literacy verfolgen das Interesse, datenbezogene Verarbeitungsprozesse einem größeren gesellschaftlichen Diskurs auszusetzen.[9]

Der zweite, inhaltlich spezifizierende Diskurs, an den Data Infrastructure Literacy daher ansetzt, ist die wissenschaftliche Erforschung von infrastrukturellen Bedingungen der Datenverarbeitung. Hier berufen Gray et al. sich auf das soziologische Interesse, soziale Aktivitäten als in gesellschaftliche Machtstrukturen eingebunden anzusehen. Diese in konkreten Datensätzen zu erkennen und kausale Beziehungen auf Grundlage von Daten aufzuzeigen, stellt eine zentrale Vorgehensweise für die Untersuchung von Dateninfrastrukturen dar, die Gray et al. mit der kritischen Analyse der daraus gewonnenen Ergebnisse verknüpfen möchten.[10]


Weiterführende Literatur


Quellenverzeichnis

  1. D'Ignazio, Catherine und Rahul Bhargava. 2016. "DataBasic: Design Principles, Tools and Activities for Data Literacy Learners." The Journal of Community Informatics 12(3). Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.15353/joci.v12i3.3280, S. 84.
  2. Gray, Jonathan et al. 2018. "Data infrastructure literacy." In: Big Data & Society 5(2): 1-13. Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.1177/2053951718786316.
  3. Gray, Jonathan et al. 2018. "Data infrastructure literacy." Big Data & Society 5(2): 1-13. Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.1177/2053951718786316, S. 3.
  4. Gray, Jonathan et al. 2018. "Data infrastructure literacy." Big Data & Society 5(2): 1-13. Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.1177/2053951718786316, S. 6.
  5. Gray, Jonathan et al. 2018. "Data infrastructure literacy." Big Data & Society 5(2): 1-13. Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.1177/2053951718786316, S. 8.
  6. Gray, Jonathan et al. 2018. "Data infrastructure literacy." Big Data & Society 5(2): 1-13. Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.1177/2053951718786316, S. 7f.
  7. Gray, Jonathan et al. 2018. "Data infrastructure literacy." Big Data & Society 5(2): 1-13. Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.1177/2053951718786316, S. 5.
  8. Siehe Gray, Jonathan et al. 2018. "Data infrastructure literacy." In: Big Data & Society 5(2): 1-13. Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.1177/2053951718786316, S. 5; und D'Ignazio, Catherine. 2017. "Creative data literacy. Bridging the gap between the data-haves and data-have nots." Information Design Journal 23(1). Aufgerufen am 29.04.2021, https://www.jbe-platform.com/content/journals/10.1075/idj.23.1.03dig, S. 11.
  9. Siehe hierzu unter anderem Mark Frank et al. 2016. "Data Literacy - what is it and how can we make it happen? Editorial." The Journal of Community Informatics 12(3): 4-8. Boston: Simmons University. Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.15353/joci.v12i3.3274.
  10. Gray, Jonathan et al. 2018. "Data infrastructure literacy." In: Big Data & Society 5(2): 1-13. Aufgerufen am 29.04.2021, https://doi.org/10.1177/2053951718786316, S. 3f.

Die erste Version dieses Beitrags wurde von Annabell Blank im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.

Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2021. „Data Infrastructure Literacy (Medienbildung).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.