Datafizierung (Medienwissenschaft)

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Datenfizierung, Datafizierung oder Datafication bezeichnet Veränderungen verschiedener Art, die mit der Ausweitung von Datenerhebungsverfahren auf zahlreiche Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der individuellen Lebensgestaltung einhergehen.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Algorithmus (Medienwissenschaft), Big Data (Medienwissenschaft), Daten (Medienwissenschaft), Datensouveränität, Digitalisierung (Medienwissenschaft), Mediale Kontrolle (Medienwissenschaft), Plattformsouveränität (Medienwissenschaft)



Was bezeichnet der Begriff?

Der zeitdiagnostisch und ideologiekritisch geprägte Terminus wird als Sammelbegriff für eine Reihe von Transformationen auf verschiedenen Ebenen beschrieben, bei denen die an Big-Data-Verfahren orientierte Erhebung und Verarbeitung von Daten jeweils größere Bedeutung erlangt, auf neue Bereiche ausgedehnt wird oder andere Verfahren des Umgangs einer Gesellschaft mit Informationen verdrängt. Parallel zu den verschiedenen Ebenen der Digitalisierung lässt sich daher von Datafication oder Datafizierung bzw. Datenfizierung sprechen, wenn (a) ein zuvor nicht dokumentierter Vorgang oder Zustand der Datenerhebung unterworfen wird, etwa bei einer Volkszählung; (b) der Umgang mit diesen Daten stärker als zuvor quantifizierenden, digitalen, algorithmischen und automatisierten Verfahren unterworfen wird, etwa bei der Automatisierung der Datenerhebung und -verarbeitung in sozialen Netzwerken; und (c) gesellschaftliche Strukturen sich wandeln, wenn etwa Volkszählungen sich der Verfahren von Online-Plattformen bedienen oder gegenüber deren aktuellen und stärker operationalisierten Daten an Bedeutung verlieren.

Woher kommt der Begriff?

Der Rechtswissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger und der Journalist Kenneth Cukier haben den Begriff der ‚datafication‘ 2013 in einer Auseinandersetzung mit dem jüngeren Phänomen der Big-Data-Verfahren geprägt.[1] Sie bezeichnen damit eine gesellschaftliche Transformation, die mit der umfassenderen, umfangreicheren, schnelleren und automatisierten Erhebung und Verarbeitung von Daten zusammenhängt. Die Kommunikationswissenschaftler Mejias und Couldry sehen Datafizierung als Überführung von Phänomenen des menschlichen Lebens in quantifizierbare Daten, die zudem häufig mit ihrer ökonomischen Verwertung zusammenhängt.[2]

Stand in den ersten Jahren der Forschung zu diesem Begriff die Auseinandersetzung mit und Ideologiekritik an der Regulierung und der staatlichen oder durch souverän agierende Online-Plattformen ausgeübten Kontrolle durch Datafizierung im Vordergrund,[3] rückt in jüngeren Arbeiten vor allem aus Sicht der Science and Technology Studies auch die Rolle individueller und persönlicher Praktiken in den Vordergrund, die zunehmend in Arbeit an Daten bestehen, wie das Team um Marcus Burckhardt 2022 betont hat.[4]


Wonach muss ich fragen?

  • Welche Praktiken in meiner ständigen Lebensführung werden von der Erhebung und Verarbeitung von Daten begleitet?
  • Welche Prozesse bei Organisationen, Unternehmen und in der staatlichen Verwaltung erheben und verwalten Daten?
  • Welche dieser Praktiken und Prozesse bestehen vollständig aus der Arbeit mit Daten?
  • Wo verschieben sich diese Grenzen?
  • Wo verändert sich diese Arbeit durch neue Big-Data-Analyseverfahren?
  • Was wird durch diese Arbeit mit Daten leichter oder schwerer sichtbar oder verständlich?
  • Was geht verloren?
  • Welche Machtbeziehungen haben zu der Auswahl dieser spezifischen Datenprozesse beigetragen? Welche werden davon unterstützt?

Wann ist das wichtig?

Van Dijck[5] vertritt eine umfassende ideologiekritische Auseinandersetzung mit der Funktionsweise 'Oberfläche' und den Praktiken, die den Umgang mit sozialen Medien und ihrer Datenverarbeitung betreffen. Zudem stellen sich die grundlegenden kritischen Fragen wie an alle Datenerhebungen[6]: Die Übersetzung von Vorgängen in Datenverarbeitung verwirklicht stets nur einige von vielen Möglichkeiten. Von welchen Machtbeziehungen hängt diese Auswahl ab, welche politischen und individuellen Konsequenzen hat sie?

In der Medienbildung geht neben der allgemeinen kritischen Beobachtung und Bewertung politischer, ökonomischer und persönlicher Konsequenzen die Entwicklung emanzipatorischer, insbesondere „subersiver, epistemischer und transaktionaler Praktiken“ einher.[7] Dabei begegnet einem wie in vielen Auseinandersetzungen mit Datensouveränität die Konkurrenz zwischen der Ermächtigung individueller Akteur_innen und ihrer Überforderung mit Problemem, deren Lösung auf politische Vorgaben und die Regulierung ökonomischer Prozesse angewiesen ist.[8]

Wie wird der Begriff erfasst/festgestellt?

Bezeichnend für Datenfizierung im engeren Sinne ist die Umstellung auf Verfahren, die vollständig aus der Arbeit mit Daten bestehen. Vorgänge und Zustände werden dokumentarisch durch Datenerhebungen begleitet, so dass „data doubles“ u.a. von menschlichen Körpern und Bewusstseinszuständen entstehen, deren Bearbeitung Interaktionen und Reflexionen auch ohne Rückführung auf die materiellen Ausgangspunkte erlauben.[9] Sie lassen sich von solchen Vorgängen unterscheiden, bei denen durch die Dokumentierung, Verwaltung oder Kontrolle eines Vorgangs eine Datenbasis entsteht, die mit den analogen und nicht datafizierten Zusammenhängen interagieren können, die aber von ihnen unterscheidbar bleiben. Ein Beispiel, das Minna Ruckensteins Analyse zugrundelegt,[10] ist die Unterscheidung von bloßen medizinischen Messungen des Herzrhythmus zur umfassenden Praxis mit ständig operierenden Self-Monitoring-Apps, die den eigenen Herzrhythmus messen und Verhaltensänderungen sowie vernetzte Kommunikation über die Ergebnisse als neue, eigenständige Praxis antreiben. In dieser Hinsicht ist der Ort, an dem Datenfizierung festgestellt werden kann, die praxeologische Untersuchung von konkreten Verhaltensweisen, etwa durch Beobachtung oder Interviews. Hinzu kommt die Analyse der eingesetzten Werkzeuge in Interface- und Science-and-Technology-Studien[11] sowie die ideologiekritische Auseinandersetzung mit einzelnen Plattformen [12] oder größeren gesellschaftlichen und politischen Transformationen[13].

Welche Bildungsprojekte gibt es dazu?

  • Der Beitrag „Your Day in Data“ aus dem Projekt „The Glass Room“ von Tactical Tech zeigt einen typischen Tagesablauf und dokumentiert mit Zitaten aus den Privacy Policy Dokumenten der Unternehmen, welche Daten wir tagtäglich im digitalen Raum preisgeben: https://theglassroom.org/en/capsule-1-0/exhibits/data-day/

Weiterführende Literatur

  • Mayer-Schönberger, Viktor und Kenneth Cukier. 2013. Big Data: A Revolution That Will Transform How We Live, Work, and Think. Boston, MA: Houghton Mifflin Harcourt.

Quellenverzeichnis

  1. Vgl. Mayer-Schönberger, Viktor und Kenneth Cukier. 2013. Big Data: A Revolution That Will Transform How We Live, Work, and Think. Boston, MA: Houghton Mifflin Harcourt.
  2. Vgl. Mejias, Ulises A. und Nick Couldry. 2019. „Datafication“. Internet Policy Review 8(4). Abrufbar unter: https://doi.org/10.14763/2019.4.1428. Zugriff am 25.03.2024.
  3. Vgl. van Dijck, José. 2014. „Datafication, dataism and dataveillance: Big Data between scientific paradigm and ideology.“ Surveillance & Society 12(2): 197-208. DOI: https://doi.org/10.24908/ss.v12i2.4776. ISSN: 1477-7487. Abrufbar unter: https://ojs.library.queensu.ca/index.php/surveillance-and-society/issue/view/Big%20Data. Zugriff am 12.12.2022.
  4. Vgl. Burkhardt, Marcus et al (eds.). 2022. Interrogating Datafication Towards a Praxeology of Data. Bielefeld: transcript. Abrufbar unter: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5561-2/interrogating-datafication/?number=978-3-8394-5561-6. Zugriff am: 12.12.2022.
  5. Vgl. van Dijck, José. 2014. „Datafication, dataism and dataveillance: Big Data between scientific paradigm and ideology.“ Surveillance & Society 12(2): 197-208. DOI: https://doi.org/10.24908/ss.v12i2.4776. ISSN: 1477-7487. Abrufbar unter: https://ojs.library.queensu.ca/index.php/surveillance-and-society/issue/view/Big%20Data. Zugriff am 12.12.2022.
  6. Vgl. Burkhardt, Marcus und Sebastian Gießmann. 2014. „Was ist Datenkritik?“ Mediale Kontrolle unter Beobachtung 3(1). Abrufbar unter: https://www.medialekontrolle.de/ausgaben/3-12014-datenkritik/. Zugriff am: 12.12.2022.
  7. Allert, Heidrun und Christoph Richter. 2020. „Learning Analytics: subversive, regulierende und transaktionale Parktiken.“ In Big Data, Datafizierung und digitale Artefakte, herausgegeben von Stefan Iske, Johannes Fromme, Dan Verständig und Katrin Wilde, 15-35. Wiesbaden: Springer.
  8. Vgl. Dander, Valentin. 2020. „Grundzüge einer Kritischen Politischen Ökonomie von Big Data Analytics – und ihre bildungstheoretischen Implikationen.“ In Big Data, Datafizierung und digitale Artefakte, herausgegeben von Stefan Iske, Johannes Fromme, Dan Verständig und Katrin Wilde, 75-95. Wiesbaden: Springer.
  9. Vgl. Ruckenstein, Minna. 2014. „Visualized and Interacted Life: Personal Analytics and Engagements with Data Doubles.“ Societies 4(1): 68–84. Abrufbar unter: https://doi.org/10.3390/soc4010068. Zugriff am 19.01.2023.
  10. Vgl. Ruckenstein, Minna. 2014. „Visualized and Interacted Life: Personal Analytics and Engagements with Data Doubles.” Societies 4(1): 68–84. Abrufbar unter: https://doi.org/10.3390/soc4010068. Zugriff am 19.01.2023.
  11. Vgl. Burkhardt, Marcus et al (eds.). 2022. Interrogating Datafication Towards a Praxeology of Data. Bielefeld: transcript. Abrufbar unter: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5561-2/interrogating-datafication/?number=978-3-8394-5561-6. Zugriff am: 12.12.2022.
  12. Vgl. van Dijck, José. 2014. „Datafication, dataism and dataveillance: Big Data between scientific paradigm and ideology.“ Surveillance & Society 12(2): 197-208. DOI: https://doi.org/10.24908/ss.v12i2.4776. ISSN: 1477-7487. Abrufbar unter: https://ojs.library.queensu.ca/index.php/surveillance-and-society/issue/view/Big%20Data. Zugriff am 12.12.2022.
  13. Vgl. Mayer-Schönberger, Viktor und Kenneth Cukier. 2013. Big Data: A Revolution That Will Transform How We Live, Work, and Think. Boston, MA: Houghton Mifflin Harcourt; Arne Hintz, Lina Dencik und Karin Wahl-Jorgensen. 2019. Digital Citizenship in a Datafied Society. Medford, MA: Polity Press.


Die erste Version dieses Beitrags wurde von Stephan Packard im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.


Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2024. „Datafizierung (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.