Graphensouveränität (Medienwissenschaft)

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Graphensouveränität bezeichnet die Macht, die Plattformen ausüben können, indem sie große Mengen von Daten zusammenführen und mithilfe mathematischer Netzwerkanalyseverfahren in relativ leicht operationalisierbares Wissen über die Nutzer_innen umsetzen.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:

Algorithmus (Medienwissenschaft), Big Data (Medienwissenschaft), Daten (Medienwissenschaft), Netzwerk (Medienwissenschaft), Plattformsouveränität (Medienwissenschaft)


Was bezeichnet dieser Begriff?

Ein Graph ist ein mathematisches Modell, bei welchem Knoten durch Kanten mit anderen Knoten verbunden sein können. In der Regel bilden die Knoten Objekte ab, während die sie verbindenden Kanten die Beziehungen von Objekten zueinander darstellen. Ein Graph ist daher zunächst die Repräsentation einer Information oder Sachlage, die in Form von Objekten und ihren Beziehungen zueinander dargestellt werden kann.[1]

Graphen finden insbesondere in der Netzwerkanalyse Anwendung. Dabei kommt ihnen gegenwärtig insbesondere im Bereich digitaler Plattformen eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung zu: Sie erlauben es großen Plattformbetreibern wie Facebook, Google und Amazon, eine Vielzahl an Daten und komplexen Datensätzen, die über Nutzer_innen gesammelt werden, in relativ leicht operationalisierbares Wissen zusammenzuführen. Graphen sind daher ein wesentlicher Bestandteil der Methoden von Big Data.

Der Medienwissenschaftler Christoph Engemann sieht die große Macht dieser Plattformen daher insbesondere in der "Monopolisierung eines Graphen", sei es nun der "Social Graph" von Facebook oder der Mobilitätsgraph von Uber.[2] Michael Seemann erklärt die Graphensouveränität deshalb zu einer wesentlichen Grundlage aktueller Formen von Plattformsouveränität.[3]

Funktionierende Graphen, d.h. Graphen, deren Informationen möglichst adäquat reale Begebenheiten abbilden, haben insbesondere deshalb enormen wirtschaftlichen Wert, weil man mit ihnen größere Zusammenhänge und Trends beobachten kann. Kann mithilfe eines Graphen beispielsweise bestimmt werden, welche Personen häufig ein bestimmtes Produkt kaufen, so kann mit größerem Erfolg Werbung für ebendieses oder ähnliche Produkte geschaltet werden.[4]

Woher kommt der Begriff?

Graphen sind ein mathematisches Verfahren zur Beschreibung der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Elementen. Sie gehen auf Überlegungen des Mathematikers Leonard Euler im Jahre 1736 zurück. Eulers Paradebeispiel war der Versuch, einen Spazierweg durch die Stadt Königsberg zu berechnen, der über jede Brücke genau einmal führte.[5]

Heute werden Graphen fast universell zur Berechnung und Beschreibung von Netzwerken eingesetzt.[6] Sie sind ein recht einfaches Verfahren zur Darstellung von komplexen Zusammenhängen, die sich durch Reduktion auf wesentliche Kriterien und Bestandteile auch bildlich mit Graphen eindrücklich widergeben lassen.[7] Anwendungsbereiche von Graphen finden sich unter anderem in den Wirtschafts- und Organisationswissenschaften, in der Logik, in der Kybernetik, in der Informationstheorie und Nachrichtentechnik sowie in der Straßen- und Verkehrsplanung.[8]

In die Soziologie und Sozialpsychologie wird die sogenannte Graphentheorie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erstmals durch den Psychiater Jacob Moreno eingeführt. Moreno verwendet dabei Punkte, sogenannte Knoten, zur Markierung von sozialen Akteuren und Linien oder Pfeile stellvertretend für die Beziehungen zwischen ihnen. Danach etablieren sich Graphen als wesentliche Analysemethode von Netzwerken in der Netzwerkforschung[9], weil sie ein formales Modell liefern, mit dem sich "die Struktur eines Netzwerkes numerisch in einer Matrix" abbilden und analysieren lässt.[10] Der Medienwissenschaftler Sebastian Gießmann nimmt an, dass die "Visualität und Visualisierung graphentheoretischer Zusammenhänge" einen entscheidenden Beitrag zur Verzahnung von Netzwerkdenken und Graphentheorie in dieser Zeit leistete.[11]

Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts nimmt die Graphen-Analyse als ausgefeilte Medientechnologie globales Ausmaß an: So ist seit längerem bekannt, dass die NSA bereits seit 1998 im großen Stil weltweite Telekommunikationsereignisse abhörte und die daraus generierten Daten in einen Graphen überführte. Mithilfe von Algorithmen aus der Soziologie können dann Gruppenzugehörigkeiten und Gemeinschaften leicht bestimmt werden. Derartige Praktiken kamen insbesondere auch beim US-amerikanischen 'war against terror' nach den Attentaten am 11. September 2001 zum Einsatz.[12]

Weiterführende Literatur

Quellenverzeichnis

  1. Rahman, Md. Saidur. 2017. Basic Graph Theory. Cham: Springer International Publishing, S. 1.
  2. Engemann, Christoph. 2020. "'In Gesellschaft der Graphen' - Eine medientheoretische Einordnung von Corona-Tracing-Apps." Bauhaus Universität Weimar (16.04.). Aufgerufen am 31.05.2021, https://www.uni-weimar.de/de/medien/aktuell/news/titel/in-gesellschaft-der-graphen-eine-medientheoretische-einordnung-von-corona-tracing-apps/.
  3. Seemann, Michael. 2021. Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten. Berlin: Ch. Links, S. 147-155.
  4. So berichtet etwa der Unternehmer Stefan Werden: Werden, Stefan. 2016. "Digitale Souveränität, ein Orientierungsversuch." In Digitale Souveränität. Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft, herausgegeben von Mike Friedrichsen und Peter -J. Bisa, 35-51. https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-07349-7, S. 45f.
  5. Monius, Katja; Steuding, Jörn und Pascal Stumpf. 2021. Einführung in die Graphentheorie. Ein farbenfroher Einstieg in die Diskrete Mathematik. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 1.
  6. Vgl. Barabási, Albert-László. 2002. Linked. The New Science of Networks. Cambridge, MA: Perseus.
  7. Monius, Katja; Steuding, Jörn und Pascal Stumpf. 2021. Einführung in die Graphentheorie. Ein farbenfroher Einstieg in die Diskrete Mathematik. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. VII.
  8. Lenk, Hans. 1969. "Graphen und Gruppen. Anwendungsmöglichkeiten der mathematischen Graphentheorie in Soziologie und Sozialpsychologie." Soziale Welt, Jg. 20 (4): 407-427. Aufgerufen am 12.10.2021, https://www.jstor.org/stable/pdf/40876978.pdf, S. 407.
  9. Fuhse, Jan Arenth, 2018. Soziale Netzwerke: Konzepte und Forschungsmethoden. 2. überarbeitete Auflage. Stuttgart: utb GmbH, S. 39; Vgl. Moreno, Jakob L.. 1934. Who Shall Survive? Washington, DC: Nervous and Mental Disease Publishing Company.
  10. Pfeffer, Jürgen. 2010. "Visualisierung sozialer Netzwerke." In Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften, 2. Auflage, herausgegeben von Christian Stegbauer, 227-238. Wiesbaden: Springer VS, S. 227.
  11. Gießmann, Sebastian. 2008. "Graphen können alles. Visuelle Modellierung und Netzwerktheorie vor 1900." In Visuelle Modelle, herausgegeben von Ingeborg Reichle, Steffen Siegel und Achim Spelten, 269−284. München: Fink, S. 270.
  12. Engemann, Christoph. 2020. "'In Gesellschaft der Graphen' - Eine medientheoretische Einordnung von Corona-Tracing-Apps." Bauhaus Universität Weimar (16.04.). Aufgerufen am 31.05.2021, https://www.uni-weimar.de/de/medien/aktuell/news/titel/in-gesellschaft-der-graphen-eine-medientheoretische-einordnung-von-corona-tracing-apps/.

Die erste Version dieses Beitrags wurde von Vesna Schierbaum im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.

Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2021. „Graphensouveränität (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.