Kontrollverlust (Medienwissenschaft)

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Kontrollverlust beschreibt eine Erfahrung, bei der Instanzen, die über Datensammlungen Kontrolle ausüben sollen, mit unabsehbaren Konsequenzen der Datensammlung konfrontiert sind.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Algorithmisches Entscheiden (Medienwissenschaft), Algorithmus (Medienwissenschaft), Big Data (Medienwissenschaft), Daten (Medienwissenschaft), Datenschutz (Rechtswissenschaft), Informationelle Selbstbestimmung (Rechtswissenschaft), Mediale Kontrolle (Medienwissenschaft); Personenbezogene Daten (Rechtswissenschaft), Überwachung (Medienwissenschaft)

Was bezeichnet dieser Begriff?

Als Kontrollverlust wird eine wiederkehrende Erfahrung im Umgang mit neuesten Medien beschrieben, bei der gerade die Zunahme von Kontrollmechanismen, etwa allgegenwärtige Videoüberwachung und Datafizierung, zu einem empfundenen Verlust an Kontrolle führt. So definiert Michael Seemann: "Ein Kontrollverlust entsteht, wenn die Komplexität der Interaktion von Informationen die Vorstellungsfähigkeiten eines Subjektes übersteigt."[1]

Diese Erfahrung tritt ein, wenn andere Kontrolleffekte entstehen, als sie bei der Instanz erwartet oder gewünscht werden, die die verarbeiteten Daten zunächst kontrollieren sollte. Dies kann der Fall sein, wenn die eigenen personenbezogenen Daten von anderen Akteuren erhoben, gesammelt und verarbeitet werden. Es kann aber auch datensammelnden Organisationen wie kommerziellen Datenverarbeitungsunternehmen und Geheimdiensten widerfahren, wenn angesichts der mangelnden Sicherbarkeit der erhobenen Daten oder wegen der Unabsehbarkeit der durch Big Data-Verfahren möglichen Konsequenzen der Datenverarbeitung Datensammlungen anderen Zwecken dienen, als sie selbst die datensammelnden Personen und Organisationen vorhersagen konnten.[2] Kontrollverlust kann demnach als Konsequenz aus Verfahren medialer Kontrolle verstanden werden, die als Einschränkung dieser Kontrolle beobachtet wird, tatsächlich aber die Kontrolle ausweitet[3] und verschiebt.

Eine besondere Form des Kontrollverlusts wird in algorithmischen Umgebungen erlebt, in denen zugleich eine Verschiebung von Handlungsmacht von menschlichen auf maschinelle Akteure erfahren wird. Die nicht mehr kontrollierbare Datenverarbeitung scheint dann unmittelbar in ebenso wenig kontrollierte Entscheidungen einzugehen.

Digitale Souveränität ist häufig als Abwehrbegriff gegen die Erfahrung des digitalen Kontrollverlusts gefasst worden, so etwa in den Diskussionen um Datensouveränität, digitale Selbstbestimmung und informationelle Freiheitsgestaltung. In Anlehnung an Püschel[4] lassen sich diese Versuche, mediale Kontrolle wiederherzustellen, nach ihrer Ansiedlung an der sozialen Dimension ego/alter, also beim betroffenen Subjekt (ego) oder bei seinem persönlichen oder korporierten Gegenüber (alter), ansiedeln: Während digitale Selbstbestimmung als Zuspitzung der informationellen Selbstbestimmung bei den Rechten der einzelnen Subjekte ansetzt, soll Datensouveränität deren Kompetenzen so entwickeln, dass sie diese Rechte nutzen und verteidigen können. Andererseits erlegt der Datenschutz den anderen Akteuren in der Gesellschaft Handlungsgrenzen auf. Das Zusammenspiel beider wird in der informationellen Freiheitsgestaltung verhandelt.


Woher kommt der Begriff?

Das Konzept und teilweise auch der Begriff des Kontrollverlusts stammt wohl aus empfindsamen und psychologischen sowie pädagogischen Diskursen, in denen emotionale und affektive Ausbrücke aus rationaler und subjektiver Kontrolle gemeint sind.[5] Ebenso wird in der Frühzeit der modernen Psychologie und Psychoanalyse Sigmunds Freuds Beobachtung, dass das "Ich nicht mehr Herr im eigenen Haus" sei[6], als Kontrollverlust beschrieben, bei dem die Kontrolle an unbewusste und als fremd wahrgenommene Instanzen in der eigenen Psyche abgegeben werden. In der Psychologie wird die Erfahrung des Kontrollverlusts jedoch auch in sozialen Konstellationen beschrieben, in denen andere Personen Kontrolle über den ureigenen Bereich einer Person erhalten oder diese Kontrolle aus anderen Gründen, etwa in Folge einer Verhaltensstörung, verloren geht.[7] Intersubjektiv wird dieser Loss of Control (LOC) in pädagogischen und pädiatrischen Kontexten beschrieben, in denen Betreuende die Kontrolle über Kinder als Kontrollverlust der Kinder erleben.[8]

Politisch wird Kontrollverlust von Individuen und Klassen, aber auch von Regierungen, an kapitalistische, menschliche und nichtmenschliche korporative Handlungstragende beschrieben. An die Globalisierungskritik im letzteren Kontext aus den 1990er Jahren schließt wohl der jüngere Sprachgebrauch im Englischen und Deutschen an.[9]

Vor diesem Hintergrund ist die Neufassung des Begriffs für die digitale Gesellschaft eine bemerkenswerte Verschiebung der Konzeption von der Instanz, an die Kontrolle verloren wird: An die Stelle von eigenen psychischen sowie fremden menschlichen Interessen treten digitale, programmierte Akteure. Kritisch sollte daher stets gefragt werden, ob eine Erklärung von Kontrollverlusterfahrungen, die technische Innovationen als Ursache benennt, andere politische oder psychologische Konstellationen verdeckt.

Im deutschsprachigen Diskurs ist der jüngere Begriff im oben beschriebenen Sinne vor allem von Michael Seemann geprägt worden, der ihn auf dem gleichnamigen Blog und in der späteren Monographie Das neue Spiel ausführlich diskutiert.[10]


Weiterführende Literatur


Quellenverzeichnis

  1. Seemann, Michael. 2011. „Vom Kontrollverlust zur Filtersouveränität.“ In #public_life – Digitale Intimität, die Privatsphäre und das Netz, herausgegeben von Heinrich Böll Stiftung, 74-79. Berlin: Heinricht Böll Stiftung, S. 74.
  2. Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. Aufgerufen am 16.08.2021, https://www.ctrl-verlust.net/buch/.
  3. Deleuze, Gilles. 2017 [1993]. Unterhandlungen 1972-1990. Übersetzt von Gustav Roßler. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 254-262.
  4. Püschel, Florian. 2014. "Big Data und die Rückkehr des Positivismus. Zum gesellschaftlichen Umgang mit Daten." Mediale Kontrolle unter Beobachtung 3.1. Augerufen am 16.08.2021, http://www.medialekontrolle.de/wp-content/uploads/2014/09/Pueschel-Florian-2014-03-01.pdf, S. 15.
  5. Mühlbacher, Manuel. 2019. Kraft der Figuren. Darstellungsformen der Imagination bei Shaftesbury, Condillac und Diderot. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 49–135; Foucault, Michel. 1973. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  6. Freud. Sigmund. 2010. "Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse." In Kulturtheorie, herausgegeben von Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat und Thomas Hauschild, 289-296. Bielefeld: Transcript.
  7. Flammer, August und Yuka Nakamur. 2002. "An den Grenzen der Kontrolle." Zeitschrift für Pädagogik, 44. Beiheft (02): 83-107. Aufgerufen am 16.08.2021, https://www.pedocs.de/volltexte/2011/3932/pdf/ZfPaed_44_Beiheft_Flammer_Nakamura_An_den_Grenzen_D_A.pdf; Stangl, Werner. 2021. "Kontrollverlust." Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Aufgerufen am 16.08.2021, https://lexikon.stangl.eu/20333/kontrollverlust/.
  8. Ress, Rachel et al. 2017. "Loss of Control (LOC) Eating in Children." In Encyclopedia of Feeding and Eating Disorders, herausgegeben von Tracey Wade, 495-498. Singapore: Springer.
  9. Sassen, Saskia. 1996. Losing Control? Sovereignty in an Age of Globalization. New York: Columbia University Press.
  10. Seemann, Michael. 2010-2021. ctrl-verlust. Aufgerufen am 16.08.2021, https://www.ctrl-verlust.net/managing-ctrl-verlust-ii-plattformneutralitat-als-politik/.


Die erste Version dieses Beitrags wurde von Stephan Packard im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.

Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2021. „Kontrollverlust (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.