Netzwerk (Medienwissenschaft)

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Der Netzwerkbegriff wird vieldimensional und teils metaphorisch zur Beschreibung von physischen, natürlichen und kulturellen Verbindungen, von verbindenden kulturellen Praktiken, von diagrammatischen und mathematischen Modellen aus Knoten und Kanten sowie von den charakteristischen Organisationsformen der modernen oder postmodernen Gesellschaft eingesetzt.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Algorithmus (Medienwissenschaft), Algorithmisches Entscheiden (Medienwissenschaft), Ideologie (Medienwissenschaft), Netzwerkdenken (Medienwissenschaft)


Was bezeichnet dieser Begriff?

Der Begriff des Netzwerks wird in diversen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich aufgefasst und operationalisiert. In der Netzwerkforschung bezeichnet er zunächst formal die Anordnung einer Gruppe von Eckpunkten, die über Kanten miteinander verbunden sind. So verstanden werden Netzwerke in der Mathematik auch als Graphen bezeichnet.[1]

Kultur- und medienwissenschaftliche Verwendungen des Begriffs gehen über diese formale Definition teils konzeptuell, teils metaphorisch hinaus. Sebastian Gießmann schlägt vor, heuristisch zwischen den Begriffen 'Netz', 'Vernetzung' und 'Netzwerk' zu unterscheiden. Als Netz werden dann "konkrete dingliche Artefakte, aber auch konnektive Strukturen" bezeichnet, "die in topologischen Diagrammen repräsentiert"[2] werden können. Sie verweisen auf die Materialität und Dinglichkeit von Netzwerken, deren Bedeutungskern laut Hartmut Böhme auf natürliche und kulturelle, in jedem Fall aber physisch vorliegende Konstruktionen und Artefakte wie das Spinnennetz oder das Fischernetz zurückzuführen sei.[3]

Die Praktik des Vernetzens meint dann das Schaffen "konnektive[r] Verbindungen gleicher Elemente". Die Anfänge so verstandener Praktiken liegen dann weit vor ihrer erstmaligen geohistorischen Beschreibung als raumgreifende Verkehrs- und Medieninfrastrukturen im 16. Jahrhundert.[4]

Drittens wird diskurstheoretisch und wissenshistorisch untersucht, unter welchen Bedingungen das Netzwerk diskursiv zu einer Kulturtechnik "erhoben" wird, die sich die sogenannten 'Netzwerkgesellschaften'[5] selbstreflexiv zuschreiben.[6] So wird das Netzwerk in einigen Annäherungen als Kulturtechnik historisch spezifisch der Moderne[7] oder der Gegenwart[8] zugeordnet.

Darüber hinaus lassen sich medientheoretisch und bildwissenschaftlich Netzwerkdarstellungen als visuelle Modelle und Diagramme beschreiben, wie sie in einigen Wissenschaften wie der Mathematik und der Soziologie vor allem seit Beginn des 20. Jahrhundert verstärkt Anwendung finden.[9] Beleuchtet wird so auch, inwiefern sich historisch spezifische Denkweisen in den Natur- und Geisteswissenschaften und die Verwendung des Netzwerkbegriffs als abstrakte epistemologische Figur und Metapher gegenseitig bedingen. So kann zum Beispiel gefragt werden, wie sich in der Philosophie der Postmoderne ein Netzwerkdenken herausgebildet hat, das es erlaubt, "hybride Vermischungen und dynamische Gemengelagen zwischen Kultur und Natur spürbar werden zu lassen"[10]. Gießmann nennt hier beispielsweise die Rhizomatik bei Gilles Deleuze und Félix Guattari, den Dispositivbegriff bei Michel Foucault und die nicht-lineare Geschichtsschreibung bei Michel Serres. In seiner übersteigerten Form birgt das Netzwerkdenken die Gefahr der Ideologisierung, beispielsweise wenn die konsequente Anwendung der Netzwerkmetapher davon abweichende Zusammenhänge und Fragestellungen überlagert.

Die zum Ende des 20. Jahrhunderts aufkommenden Netzwerktheorien können als Fortführungen und Operationalisierungen dieses Denkens gelten. Aus Perspektive der Kulturtechnikforschung und der Medienwissenschaft ist hier insbesondere auf die Akteur-Netzwerk-Theorie zu verweisen, die nicht-menschliche Akteure aus dem reinen Objektstatus befreit und in die Beschreibung von sozialen Netzwerken als vollwertige Handlungsträger einbezieht.[11] Dies wird sodann auch für die Begriffsbestimmung digitaler Souveränität relevant, wenn beispielsweise Algorithmen als Handlungsträger verstanden werden können und algorithmische Entscheiungen als Entscheidungen geteilter Handlungsträgerschaft zwischen Mensch und Algorithmus in digitalen Netzwerken bewertet werden müssen.

Die Metapher vom Netzwerk, die seit der Jahrtausendwende "wie selbstverständlich" auch die Beschreibung von Internetstrukturen dominiert, muss daher wesentlich als heterogen und 'unscharf' gelten.[12] Sie bezeichnet in aller Regel nicht mehr lediglich die elektronischen Glasfaserverbindungen zwischen Rechnern, verstanden als materielle, physische Netze. So werden digitale Plattformen wie Facebook oder Twitter beispielsweise als soziale Netzwerke bezeichnet, bei denen die Kommunikation mit anderen Nutzer_innen zunächst im Fokus steht. Aber auch über den Aspekt der Kommunikation hinaus sind Imaginationen des Internets von seiner Beschreibung als "transzendentale Struktur"[13] geprägt, aus der heraus neue Organisationsformen von Wissen und Macht entstehen.[14] Dass auch sie Vernetzungspraktiken darstellen, deren infrastrukturelle Grundlage "physische Netze bleiben"[15], gerät dabei nicht selten in den Hintergrund. Netzwerke seien daher laut Gießmann "heterogene, interkonnektive und unscharfe Quasi-Objekte [...], die Menschen, Dinge, Zeichen, Institutionen und Räume integrieren."[16]

Woher kommt der Begriff?

Der Bedeutungskern des Begriffs Netzwerk ist das Netz, welches zunächst ein "geknüpftes Maschenwerk", "Gespinst der Spinne" und allgemeiner die "Gesamtheit vieler sich kreuzender und voneinander abzweigender Verbindungen" meint. Es stammt von dem lateinischen Wort 'nassa' ab, das ein Fangnetz beziehungsweise eine Fischreuse bezeichnet.[17] Die Etymologie des Begriffs zeigt dessen Provenienz aus dem Bereich des Textilen und seinen Bezug zu vorzeitlichen und antiken Praktiken der Jagd und des Fischfangs.

Problematisch sei das Wort laut Christian Emden deshalb, weil es nicht nur menschengemachte Artefakte, sondern auch natürliche Erscheinungen bezeichne, sodass es nicht eindeutig dem kulturellen oder dem natürlichen Bereich zuzuordnen sei. Die unterschiedlichen metaphorischen Implikationen ergeben sich unter anderem aus dieser Ambivalenz des Begriffes, der bereits in der Antike zur polysemantischen philosophischen Wissensmetapher wird, in die Bedeutungen wie das Irren und Verfangen ebenso einfließen wie das Ordnen und Organisieren im Raum. So werden Text und Kontext bereits in der Antike netzartig begriffen; die so verstandene Netzmetapher bleibt bis in die Philosophie der Moderne erhalten.[18]

Seine semantische Nähe zum (textilen) Gewebe verliert der Begriff des Netzes laut Emden im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als es hauptsächlich noch für die Beschreibung technischer Bereiche verwendet wird und beispielsweise weite Flächen umspannende Straßenverflechtungen als Netze bezeichnet werden. Aber bereits zuvor dient es zur Veranschaulichung institutioneller Beziehungen und verflochtener Handlungsräume. Zum Ende des 19. Jahrhundert konvergieren verstärkt Vorstellungen von Nervennetzen, Elektrizitäts- und Telefonnetzen, die dann im Begriff des Netzwerks zum Organisationsprinzip und Hauptmerkmal der Moderne und ihrer Gesellschaft erhoben werden.[19]


Weiterführende Literatur

  • Barkhoff, Jürgen; Böhme, Hartmut und Jeanne Riou. 2004. Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln: Böhlau.
  • Dorogovtsev, S. N. und José F. F. Mendes. 2003. Evolution of Networks: from biological nets to the Internet and WWW. Oxford: Oxford University Press.
  • Gießmann, Sebastian. 2016. Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke. Berlin: Kadmos.
  • Gießmann, Sebastian. 2018. "Vernetzen". In Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Band 2, herausgegeben von Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann, 482-501. Köln u.a.: Böhlau Verlag.


Quellenverzeichnis

  1. Dorogovtsev, S. N. und J. F. F. Mendes. 2003. Evolution of Networks: from biological nets to the Internet and WWW. Oxford: Oxford University Press, S. 1; 6.
  2. Gießmann, Sebastian. 2016. Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke. Berlin: Kadmos, S. 15.
  3. Böhme, Hartmut. 2003. "Netzwerke: Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion." Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 13 (3): 590-604, 590.
  4. Gießmann, Sebastian. 2018. "Vernetzen". In Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Band 2, herausgegeben von Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann, 482-501. Köln u.a.: Böhlau Verlag, S. 483.
  5. Vgl. Castells, Manuel. 2000. The Rise of the Network Society. Oxford/ Malden, MA: Blackwell Publishers.
  6. Gießmann, Sebastian. 2016. Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke. Berlin: Kadmos, S. 8f.
  7. Vgl. Barkhoff, Jürgen; Böhme, Hartmut und Jeanne Riou. 2004. Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln: Böhlau.
  8. Vgl. Kaufmann, Stefan. 2004. "Netzwerk". In Glossar der Gegenwart, herausgegeben von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke, 182−189. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  9. Gießmann, Sebastian. 2016. Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke. Berlin: Kadmos, S. 10.
  10. Gießmann, Sebastian. 2013. "Verunreinigungsarbeit. Über den Netzwerkbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie. In Reinigungsarbeit. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2013): 149−160.
  11. Vgl. Latour, Bruno. 2008. Wir sind nie modern gewesen - Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. An die Akteur-Netzwerk-Theorie schließt die von der Siegener Medienwissenschaft entwickelte Akteur-Medien-Theorie an: Schüttpelz, Erhard und Tristan Thielmann. 2013. Akteur-Medien-Theorie. Bielefeld: transcript.
  12. Gießmann, Sebastian. 2016. Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke. Berlin: Kadmos, S. 14-15.
  13. Böhme, Hartmut. 2003. "Netzwerke: Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion." Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 13 (3): 590-604, 590.
  14. Weber, Stefan. 2001. Medien - Systeme - Netze. Elemente einer Theorie der Cyber-Netzwerke. Bielefeld: transcript.
  15. Gießmann, Sebastian. 2018. "Vernetzen". In Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Band 2, herausgegeben von Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann, 482-501. Köln u.a.: Böhlau Verlag, S. 496.
  16. Gießmann, Sebastian. 2016. Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke. Berlin: Kadmos, S. 15.
  17. Pfeifer, Wolfgang et al.. 1993. "Netz." In Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version. Aufgerufen am 21.07.2021, https://www.dwds.de/wb/etymwb/Netz.
  18. Emden, Christian Jürgen. 2007. "Netz". In Lexikon der philosophischen Metaphern, herausgegeben von Ralf Konersmann, 248−260. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 252ff.
  19. Emden, Christian Jürgen. 2007. "Netz". In Lexikon der philosophischen Metaphern, herausgegeben von Ralf Konersmann, 248−260. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 259.


Die erste Version dieses Beitrags wurde von Vesna Schierbaum im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.

Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2021. „Netzwerk (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.