Plattformneutralität (Medienwissenschaft)

Icon medien kultur wissenschaft.png
Von Michael Seemann formuliertes politisches Ideal, das allen Menschen gleichermaßen freien Zugang zu gesellschaftsrelevanten Plattformen und dadurch uneingeschränkte Teilhabe an gesellschaftlichem Austausch zusichert. Als öffentlicher Raum müsse demzufolge insbesondere im Internet Neutralität politisch gewährleistet werden.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Daten (Medienwissenschaft), Digitalisierung (Medienwissenschaft), Filtersouveränität (Medienwissenschaft), Informationszugang (Rechtswissenschaft), Öffentlichkeit (Medienwissenschaft), Plattformsouveränität (Medienwissenschaft), Zensur (Medienwissenschaft)


Was bezeichnet dieser Begriff?

Plattformneutralität ist ein Konzept des Medienwissenschaftlers Michael Seemann. Sie beschreibt ein politisches Ideal, nach welchem allen Menschen neutral, also nach dem Gebot der Gleichheit freien Zugang zu den für eine Gesellschaft und für gesellschaftlichen Austausch wichtigen infrastrukturellen Plattformen gewährleistet wird.[1] Ausgehend von Jürgen Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns wird dabei angenommen, dass nur unter vollständig gleichen Bedingungen und Chancen für alle Beteiligten und ohne die Herrschaft oder Entscheidungsmacht einer auserwählten Gruppe oder einzelner Personen ("herrschaftsfreie Kommunikation"[2]) eine "ideale Sprechaktsituation"[3] und somit gelingender Austausch möglich ist.[4]

Als Plattformen bezeichnet Seemann alle institutionellen Orte und Räume öffentlichen Austausches, das heißt Staaten, staatliche Bildungseinrichtungen, Marktplätze, aber auch das Internet.[5] Die Plattformneutralität stellt sodann sicher, dass alle Menschen gleichermaßen Zugang zu diesen Plattformen erhalten und nicht etwa durch äußere Begebenheiten unterbrochen, zensiert oder ganz ausgeschlossen werden. Für Seemann bedeutet dies nicht nur, dass allen gleichermaßen das Zugangsrecht gewährt wird, sondern auch, dass zusätzliche Bedingungen für diejenigen geschaffen werden, die strukturell beispielsweise durch Rassismus, Sexismus, Ableismus, Staatenlosigkeit oder andere erschwerende Umstände benachteiligt werden.[6] In einigen Fällen erfordere dies auch die (gesetzlich vorgeschriebene) Implementierung bestimmter Ungleichbehandlungen in diese Infrastrukturen, "um gewisse Diskriminierungen aus anderen Ebenen auszugleichen"[7]. Eine bereits heute geltende, damit vergleichbare Regelungen ist zum Beispiel die sogenannte Frauenquote. Unverzichtbar für das Funktionieren dieses Ansatzes sei laut Seemann jedoch die Offenlegung derjenigen Kriterien, die bei der Durchsetzung der Plattformneutralität durch die Plattformbetreiber angewandt werden.[8]


Woher kommt der Begriff?

Den Begriff Plattformneutralität entwickelte der Medienwissenschaftler Michael Seemann in Auseinandersetzung mit aktuellen Debatten zu dem durch die Digitalisierung angetriebenen Strukturwandel von Öffentlichkeit und Gesellschaft. Wie auch andere Ideen und Konzepte diskutierte Seemann den Begriff zunächst auf seinem Blog ctrl+verlust bereits im Mai 2010 in drei kurzen Abschnitten zu möglichen Bewältigungsstrategien des Kontrollverlusts, der laut Seemann durch stete Vernetzung und Informationsflut in der digitalen Gesellschaft entstehe.[9] Eine genaue Definition des Begriffs lieferte er später einerseits in einem Glossar auf demselben Blog[10] sowie in seinem Buch Das Neue Spiel (2014).[11]

Der Begriff basiert auf dem viel diskutierten, in Deutschland aber gesetzlich bisher nicht festgeschriebenen Ideal der sogenannten 'Netzneutralität', ein Konzept, das auf den Begriff net neutrality nach dem US-amerikanischen Rechtswissenschaftler Timothy Wu zurückgeht.[12] In der Regel meint die Netzneutralität "den ungehinderten und diskriminierungsfreien Zugang zum Internet und dessen Nutzung"[13]. Insbesondere soll mit ihr "die gleichberechtigte Übertragung aller Daten im Internet, unabhängig ihrer Herkunft und ihres Inhalts"[14] gewährleistet sein.

Darauf aufbauend argumentiert Seemann unter dem Begriff 'Plattformneutralität' für die Bestimmung derjenigen Infrastrukturen, "die gesellschaftlichen Austausch ermöglichen" und fordert deren "diskriminierungsfreien Zugang und Betrieb".[15] In der Politik müsse ihm zufolge anerkannt werden, dass Öffentlichkeit und damit gesellschaftlicher Diskurs im Allgemeinen bereits heute im Internet stattfindet und auch zukünftig stattfinden werde. Sein Konzept ist daher explizit als politische Forderung zu verstehen, die den aktuellen Umgang von staatlichen Entscheidungsträger_innen mit der kontrovers diskutierten Frage nach politischer Kontrolle und gesetzlicher Regulierung des Internets kritisiert. Letztere lehnte Seemann ursprünglich ab.[16] Stattdessen spricht er sich einerseits für eine weitreichende Informationsfreiheit im Netz und für die Filtersouveränität der Nutzer_innen als neue Form der Selbstbestimmung aus. Andererseits warnt Seemann vor dem wachsenden Einfluss von Plattformbetreiber_innen auf gesellschaftliche Prozesse.[17] Wie er in Die Macht der Plattformen (2021) schreibt, gehe von ihnen eine neue Form der Souveränität aus: die Plattformsouveränität. Sie äußere sich unter anderem in der "Fähigkeit einer Plattform, ihre Vorselektion potentieller Verbindungen jederzeit zu verändern"[18], Schnittstellen umzustellen oder abzuschalten, Nutzer*innen von der Verwendung ein- oder auszuschließen oder ihre Interaktion einzuschränken.

Weiterführende Literatur

  • Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. https://www.ctrl-verlust.net/buch/.
  • Seemann, Michael. 2021. Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten. Berlin: Ch. Links.


Quellenverzeichnis

  1. Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. Aufgerufen am 17.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/buch/, S. 208.
  2. Seemann, Michael. 2010. "Managing CTRL-Verlust III – Vorschläge zu einer Politik der herrschaftsfreien Kommunikation." ctrl+verlust (10.05.). Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/tag/managing-ctrl-verlust/.
  3. Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. Aufgerufen am 17.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/buch/, S. 208.
  4. Habermas, Jürgen. 2019. Theorie des kommunikativen Handelns. Band I: Handlungsrationalität und gesell. Rationalisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Habermas, Jürgen. 2019. Theorie des kommunikativen Handelns. Band II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  5. Seemann, Michael. 2012. "Plattformneutralität." ctrl+verlust (10.05.). Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/glossar/plattformneutralitat/.
  6. Seemann, Michael. 2012. "Plattformneutralität." ctrl+verlust (10.05.). Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/glossar/plattformneutralitat/.
  7. Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. Aufgerufen am 17.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/buch/, S. 208.
  8. Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. Aufgerufen am 17.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/buch/, S. 208.
  9. Seemann, Michael. 2010. "Managing CTRL-Verlust III – Vorschläge zu einer Politik der herrschaftsfreien Kommunikation." ctrl+verlust (10.05.). Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/tag/managing-ctrl-verlust/.
  10. Seemann, Michael. 2012. "Plattformneutralität." ctrl+verlust (10.05.). Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/glossar/plattformneutralitat/.
  11. Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/buch/, S. 207ff.
  12. Wu, Tim. 2003. "Network Neutrality, Broadband Discrimination." Journal of Telecommunications and High Technology Law, Vol. 2: 141-179. Aufgerufen am 27.05.2021, https://scholarship.law.columbia.edu/faculty_scholarship/1281.
  13. Wissenschaftliche Dienste. 2011. "Ausarbeitung. Gesetzliche Regelung zur Netzneutralität." Bundestag, WD 3 – 3000 - 158/11. Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.bundestag.de/resource/blob/418386/f9f93e40617b976abc7f13f21f52dffa/WD-3-158-11-pdf-data.pdf, S. 5.
  14. Rogge, Sebastian. 2018. Die Zukunft der Netzneutralität im Internet. Berlin: Duncker & Humblot, S. 87.
  15. Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/buch/, S. 208.
  16. Seemann, Michael. 2012. "Managing CTRL-Verlust II – Plattformneutralität als Politik" ctrl+verlust (30.03.). Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/managing-ctrl-verlust-ii-plattformneutralitat-als-politik/.
  17. Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. Aufgerufen am 17.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/buch/, S. 185.
  18. Seemann, Michael. 2021. Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten. Berlin: Ch. Links Verlag, S. 149ff.

Die erste Version dieses Beitrags wurde von Vesna Schierbaum im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.

Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2021. „Plattformneutralität (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.