Plattformsouveränität (Medienwissenschaft)

Icon medien kultur wissenschaft.png
Fähigkeit digitaler Plattformen, eigenständig und unabhängig über potenzielle Verbindungen und Schnittstellen ihrer Anwendung zu entscheiden, zu bestimmen, auf welche Weise Nutzer_innen auf ihnen interagieren, und diese Einstellungen jederzeit zu ändern.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Algorithmus (Medienwissenschaft), Daten (Medienwissenschaft), Öffentlichkeit (Medienwissenschaft)


Was bezeichnet dieser Begriff?

Plattformsouveränität bezeichnet im engeren Sinne zunächst die Entscheidungsmacht von digitalen, oftmals global agierenden Plattformen darüber, welche Verbindungen und Schnittstellen ihrer Anwendung zugrunde liegen, auf welche Weise sie die Interaktion von Nutzer_innen ermöglichen, gestalten und einschränken, welche Standards sie implementieren und wen sie von der Verwendung ausschließen. Die Souveränität von Plattformen umfasst insbesondere die Fähigkeit, diese "Vorselektion potentieller Verbindungen jederzeit zu verändern und auf diese Weise Erwartungen zu verletzen."[1]

Die Plattformsouveränität ist laut Michael Seemann im Zusammenwirken mit der Graphensouveränität (Kartographierungen großer Mengen von relationalen Daten)[2] eine zentrale Eigenschaft großer Plattformen und Bedingung für deren Macht im 21. Jahrhundert.[3] Im weiteren Sinne kann ihre Souveränität deshalb auch darin begründet werden, dass ihre Hoheit über große Datenmengen sowie über ihre virtuelle Architektur eine weitreichende Hegemonie und Kontrolle über die auf ihr ablaufenden Interaktionen erlaubt. Das ist insbesondere auch von entscheidender politischer Bedeutung, da große Plattformen wie Facebook oder Twitter neue Öffentlichkeiten bilden, in denen gesellschaftlicher Austausch stattfindet. In jüngeren Diskussionen um den Einflussbereich und die Macht digitaler Plattformen wird diese Souveränität nicht selten derjenigen von Staaten und Regierungen gegenübergestellt, wobei in der Regel ein um Souveränität konkurrierendes Verhältnis beobachtet werden kann.[4]

Woher kommt der Begriff?

Der Begriff 'Plattformsouveränität' (engl. platform sovereignty) wurde erstmals durch den US-amerikanischen Philosophen und Designtheoretiker Benjamin Bratton beschrieben. In seinem Werk The Stack: On Software and Sovereignty (2015) entwirft er eine Philosophie der Geopolitik globaler Berechnung und algorithmischer Steuerung. Dabei konstatiert Bratton eine aktuell verlaufende, sich durch eine Informationalisierung der gesamten Welt auszeichnende Zeitenwende, die insbesondere mit einem Wechsel herkömmlicher Machtgefüge einhergehe. Staaten würden Bratton zufolge als Herrschafts- und Souveränitätszentren abgelöst. Stattdessen formten sich Agglomerate von Algorithmen und Rechenmaschinen zu sogenannten Plattformsystemen, innerhalb derer sich Souveränität bündele und hervorgebracht werde.[5] Ausgehend von der politischen Theologie Carl Schmitts (1922) und dessen Diktum, dass souverän sei, "wer über den Ausnahmezustand entscheidet"[6], weist Bratton auf die fortschreitende Einbindung sogenannter provisorischer "Entscheidungsinterfaces"[7] in die von ihm beschriebenen Plattformen hin. Diese zunächst als Provisorien angelegten Schnittstellen veränderten nicht nur die Art und Weise, wie Plattformnutzer_innen mit den Plattformen interagieren, sondern erweiterten dadurch langfristig auch den Einflussbereich der Plattformen selbst.[8]

Darauf aufbauend entwickelte Michael Seemann jüngst eine Plattformtheorie, bei der er Plattformsouveränität als zentrale Bedingung für die Macht von Plattformen im 21. Jahrhundert konzipiert.[9]


Weiterführende Literatur

  • Bratton, Benjamin. 2015. The Stack. On Software and Sovereignty. London/Cambridge: The MIT Press.
  • Seemann, Michael. 2016. "Was ist Plattformpolitik? Grundzüge einer neuen Form der politischen Macht." Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft 6: 44-49. https://www.spw.de/data/223_seemann.pdf.
  • Seemann, Michael. 2021. Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten. Berlin: Ch. Links.


Quellenverzeichnis

  1. Seemann, Michael. 2021. Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten. Berlin: Ch. Links, S. 152.
  2. Vgl. Engemann, Christoph. "Digitale Identität nach Snowden. Grundordnungen zwischen deklarativer und relationaler Identität." In Der digitale Bürger und seine Identität, herausgegeben von Christoph Engemann und Gerrit Hornung, 23-64. Baden-Baden: Nomos.
  3. Seemann, Michael. 2021. Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten. Berlin: Ch. Links, S. 147-155.
  4. Vgl. Futures of Sustainability, Universität Hamburg. 2020. "Michael Seemann: 'Plattformsouveränität' in Zeiten von Corona." YouTube (05.06.). Aufgerufen am 31.05.2021, https://www.youtube.com/watch?v=kwQ6VIDVKQo.
  5. Bratton, Benjamin. 2015. The Stack. On Software and Sovereignty. London/Cambridge: The MIT Press, S. 7f.
  6. Schmitt, Carl. 2021 [1922]. Politische Theologie. Vier Kaptel zur Lehre der Souveränität. Berlin: Duncker & Humblot, S. 13.
  7. Bratton, Benjamin. 2015. The Stack. On Software and Sovereignty. London/Cambridge: The MIT Press, S. 32.
  8. Bratton, Benjamin. 2015. The Stack. On Software and Sovereignty. London/Cambridge: The MIT Press, S. 33.
  9. Seemann, Michael. 2021. Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten. Berlin: Ch. Links, S. 149ff.

Die erste Version dieses Beitrags wurde von Vesna Schierbaum im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.

Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2021. „Plattformsouveränität (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.