Virtuelle Klasse (Medienwissenschaft)

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Als ‚virtuelle Klasse‘ wird in ideologiekritischen Beiträgen über die so genannte ‚Kalifornische Ideologie‘ des Silicon Valley eine soziale Gruppe gut bezahlter Fachkräfte beschrieben, die in ihrem politischen Denken rechte und linke Ideale in widersprüchlicher Weise verbindet.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Algorithmus (Medienwissenschaft), Daten (Medienwissenschaft), Ideologie (Medienwissenschaft), Überwachung (Medienwissenschaft)

Was bezeichnet dieser Begriff?

Im Zuge einer Ideologiekritik der vor allem im Silicon Valley lokalisierten Produktionsverhältnisse weiter Teile der jüngeren digitalen Technologien wird die ‚virtuelle Klasse‘ als jene soziale Gruppe verstanden, die der Californian Ideology dieser Produktion anhänge. Sie bestünde demnach aus einer Schicht gut bezahlter Fachkräfte in der Technologie- und Medienbranche, die einerseits in ihren Berufen vom kapitalistischen Markt abhängig seien, andererseits jeden staatlichen Eingriff in ihre Freiheit verurteilen.[1]

Für Ideologiekritik typisch wird der Gruppe ein Denken zugeschrieben, das einerseits von ihren besonderen Lebensumständen geformt sei, andererseits falsch verallgemeinert werde. Daraus sollen Widersprüche entstehen, die in diesem Fall in der Verbindung von Gedanken sowohl politisch linker, als auch rechter Bewegungen bestehen: Die Gruppe, so Barbrook und Cameron in ihrer prägenden Analyse, kombiniere „the freewheeling spirit of the hippies and the entrepreneurial zeal of the yuppies“[2].

Barbrook und Cameron kritisieren die Californian Ideology, vertreten in ihrem Aufsatz allerdings selbst normative politische Vorstellungen; so sind sie etwa Verfechter einer Umverteilung des Reichtums in den Vereinigten Staaten.[3] Dem stünde die virtual class allerdings entgegen, in deren relativer Privilegierung die Autoren eine Art Wiederaufleben der Sklaverei sehen.[4] Als Alternative entwerfen Barbrook und Cameron die Vision eines digitalisierten Europas, in dem alle Menschen gleichermaßen Zugang zum Cyberspace haben sollen.[5] Somit vermitteln Barbrook und Cameron in ihrem Text auch ihre eigene Weltanschauung.

Woher kommt der Begriff?

Mitte der 1990er Jahre wurde die vorherrschende Ideologie des Silicon Valley von dem Politikwissenschaftler Richard Barbrook und dem an der University of Westminster lehrenden Fotografen Andy Cameron als Californian Ideology beschrieben.[6]. Sie sei von einem „profound faith in the emancipatory potential of the new information technologies“[7] getrieben, das der Lebensrealität der virtuellen Klasse entspreche.

Ihre Zukunftsvision sei mehrschichtig: Einerseits propagiere sie die linke Vorstellung einer Online-Community, die Staat und Kapital durch eine Schenkökonomie ersetzt, andererseits die rechte Vorstellung eines hyperindividualisierten digitalen Marktes ohne staatliche Einmischung.[8] Dieser Widerspruch ist für die Autoren, die die Vorstellung des freien Marktes kritisieren,[9] Ausdruck eines praktischen Widerspruchs in der Lebensrealität ihrer Verfechter_innen. Die Gemeinsamkeit der widersprüchlichen Ideen sei die Ablehnung des Staates.[10]

Im Jahr 2022 untersuchten die Politikwissenschaftler Hasmet M. Uluorta und Lawrence Quill die Entwicklung der Californian Ideology seit dem Erscheinen des ursprünglichen Textes von Barbrook und Cameron.[11] Uluorta und Quill zufolge ist die normative Zukunftsvision Barbrooks und Camerons nicht eingetreten: Statt einer „informed and engaged citizenry“[12] hätten die sozialen Medien zu „consumption, gossip and the increased sorting of the population into exclusive ideological groups“[13] geführt. Die massive Überwachung des Cyberspace und die Sammlung von Daten seien zudem von Barbrook und Cameron nicht vorhergesehen worden,[14] der steigende Einfluss von Algorithmen nehme zudem den Nutzer_innen die für ihren Zukunftsentwurf entscheidende Agency.[15]

Weiterführende Literatur

  • Barbrook, Richard und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72.
  • Rehmann, Jan. 2022. Einführung in die Ideologietheorie. Hamburg: Argument Verlag.
  • Uluorta, Hasmet M. und Lawrence Quill. 2022. „The Californian Ideology Revisited.“ In Digital Platforms and Algorithmic Subjectivities, herausgegeben von Emiliana Armano, Marco Briziarelli und Elisabetta Risi. London: University of Westminster Press, 21-32. DOI: https://doi.org/10.16997/book54. Zugriff am 04.04.2024.


Quellenverzeichnis

  1. Vgl. Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72, hier 56.
  2. Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72, hier 45.
  3. Vgl. Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72, hier 60.
  4. Vgl. Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72, hier 60f.
  5. Vgl. Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72, hier 66.
  6. Vgl. Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72.
  7. Vgl.Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72, hier 45.
  8. Vgl. Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72, hier 50-53.
  9. Vgl. Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72, hier 54-56.
  10. Vgl. Richard Barbrook und Andy Cameron. 1996. „The Californian Ideology.“ Science as Culture 6(1): 44-72, hier 56.
  11. Vgl. Hasmet M. Uluorta und Lawrence Quill. 2022. „The Californian Ideology Revisited.“ In Digital Platforms and Algorithmic Subjectivities, herausgegeben von Emiliana Armano, Marco Briziarelli und Elisabetta Risi. London: University of Westminster Press, 21-32. DOI: https://doi.org/10.16997/book54. Zugriff am 04.04.2024.
  12. Hasmet M. Uluorta und Lawrence Quill. 2022. „The Californian Ideology Revisited.“ In Digital Platforms and Algorithmic Subjectivities, herausgegeben von Emiliana Armano, Marco Briziarelli und Elisabetta Risi. London: University of Westminster Press, 21-32, hier 28. DOI: https://doi.org/10.16997/book54. Zugriff am 04.04.2024.
  13. Hasmet M. Uluorta und Lawrence Quill. 2022. „The Californian Ideology Revisited.“ In Digital Platforms and Algorithmic Subjectivities, herausgegeben von Emiliana Armano, Marco Briziarelli und Elisabetta Risi. London: University of Westminster Press, 21-32, hier 28. DOI: https://doi.org/10.16997/book54. Zugriff am 04.04.2024.
  14. Vgl. Hasmet M. Uluorta und Lawrence Quill. 2022. „The Californian Ideology Revisited.“ In Digital Platforms and Algorithmic Subjectivities, herausgegeben von Emiliana Armano, Marco Briziarelli und Elisabetta Risi. London: University of Westminster Press, 21-32, hier 29. DOI: https://doi.org/10.16997/book54. Zugriff am 04.04.2024.
  15. Vgl. Hasmet M. Uluorta und Lawrence Quill. 2022. „The Californian Ideology Revisited.“ In Digital Platforms and Algorithmic Subjectivities, herausgegeben von Emiliana Armano, Marco Briziarelli und Elisabetta Risi. London: University of Westminster Press, 21-32, hier 29. DOI: https://doi.org/10.16997/book54. Zugriff am 04.04.2024.

Die erste Version dieses Beitrags wurde in studentischen Beiträgen im Rahmen des Projekts „Digitale Souveränität“ am Institut für Medienwissenschaften, Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.


Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2024. „Virtuelle Klasse (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.